Was lehrt der Glaube vom Menschen?

Quelle: FSSPX Aktuell

Wie die Einfachheit, Geistigkeit und Unsterblichkeit der menschlichen Seele, so verkündet auch niemand lauter die Freiheit und verteidigt sie standhafter als die katholische Kirche, die zu jeder Zeit beide Wahrheiten als Dogmen gelehrt hat und noch heute in Schutz nimmt. Und damit noch nicht genug: Die Kirche hat auch gegenüber den Irrlehren und neuerungssüchtigen Menschen dieses hohe Gut vor dem Verderben gerettet.

(Leo XIII, Libertas praestantissimum)

Ein oft zitierter Grundsatz des h. Thomas von Aquin lautet: „Die Gnade zerstört nicht die Natur, sondern setzt sie voraus und vervollkommnet sie.“ In der christlichen Gesamtlebensordnung werden alle natürlichen Werte unbedingt bejaht (Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Familie, Heimat, Vaterland; Arbeit und Beruf; Frohsinn und Geselligkeit; Stand, Volk, Staat).

Die übernatürliche Ordnung legt größtes Gewicht auf die Pflege der natürlichen Tugenden und natürlich-guten Beweggründe (z.B. Eltern-, Verwandten- und Freundesliebe, Arbeitsamkeit und Berufsfreude, Sparsamkeit und Freigebigkeit, Höflichkeit und Dankbarkeit).

Die natürlichen Anlagen, Vorzüge und Aufgaben des Menschen werden nicht, wie häufig völlig falsch behauptet wird, übersehen oder beargwöhnt, sondern durchaus gesehen und gutgeheißen; der christliche (katholische) Mensch ist ganzer und echter Mensch, gerade dann, wenn er sich selbst als christlichen (katholischen) Menschen ernstnimmt.

Dagegen widerspricht jede rein-natürliche (naturalistische) Auffassung dem christlichen Menschenbild; denn sie bestreitet oder vernachlässig den „neuen“ Menschen, den in Christus geheiligten und zur jenseitigen Gottesschau berufenen Menschen. Der Naturalismus ist auch in christliche Kreise eingedrungen (liberale Theologie; Gottesgelehrtheit ohne echtes Bekenntnis zum Gott der Offenbarung; Modernismus; Vorliebe für das „Neue“, unter Aushöhlung der gottgegebenen Glaubenswahrheiten und Glaubenstatsachen, Ersatz durch das subjektive Gefühl.

Der in Christus gerechtfertigte und begnadete Mensch hat an Wert nicht verloren, sondern unermeßlich gewonnen. Die Gnade (Kindschaft Gottes, Gliedschaft Christi) macht ihn reicher und werthafter, als alle natürlichen Anlagen und Errungenschaften ihn zu machen vermögen, beschenkt ihn mit einer neuen Gottesgegenwart: „Wir werden kommen und Wohnung bei ihm nehmen.“ (Jo 14,23)

Der begnadete Mensch ist deswegen viel stärker zur Selbstachtung und Selbsttreue gehalten und der Gemeinschaft obliegt die Pflicht, ihn und seine Entwicklung zu fördern.

Der Vorwurf, die christliche und vor alle die katholische Ethik breche die Selbstständigkeit des Menschen, ist gänzlich unwahr. Die Kirche hat als einzige die menschliche Freiheit gegen alle Angriffe wirksam verteidigt; sie fordert von jedem unbedingte Treue zu seinem Gewissen, wobei sie allerdings nicht so töricht ist, jeden „Wildwuchs“ als echte, vor Gott vertretbare Gewissenstreue gelten zu lassen. Christus stellt den Menschen in die Entscheidung für oder gegen Seine Person.

Sein Reich, Seine Gnade, Sein Gebot: jeder muß sein Tun für sich persönlich vor Ihm verantworten. Er will den glaubens- und bekenntnisstarken, den aufrechten und wagemutigen Anhänger, nicht den unsicheren, wankelmütigen Schwächling, der sich durch die Flucht in fremde Verantwortung der eigenen Verantwortung zu entziehen sucht.

Dem „neuen“, d.h. dem in Christus begnadeten Menschen entspricht ein neues und höheres Lebensideal, das von Christus verkündet wurde. In Seiner Nachfolge besteht und nur kraft der übernatürlichen Heilsgnade erfüllbar ist. Die Mitte dieses Lebensideals bilden die sog. göttlichen Tugenden des Glaubens, der Hoffnung und besonders der Liebe (zu Gott und zum Nächsten), denen die eingegossenen (also nicht natürlich erworbenen) sittlichen Tugenden zur Seite stehen.

Außerdem werden dem begnadeten Menschen als Wirkkräfte die Gaben des Heiligen Geistes verliehen, deren Einfluß desto wirksamer und beherrschender wird, je mehr der Mensch an Heiligkeit wächst. Immer aber bleibt der Mensch selbst tätig und für sein Tun verantwortlich; selbst dort, wo Gottes Heiliger Geist den Menschen über die gewöhnliche Art hinaus erleuchtet und bewegt, werden Tun und Verantwortung des Menschen keineswegs ausgeschaltet, sondern zu ihrer höchsten Möglichkeit und Kraft emporgeführt.

Die übernatürliche Heils- und Lebensordnung baut auf der natürlichen Ordnung auf, und zwar in der Form, daß sie (die übernatürliche) die schlechthin maßgebenden Zielsetzungen und Normen kündet bzw. auferlegt. Es gibt nur eine einzige Gesamtordnung von unbedingter Gültigkeit: die natürlich-übernatürliche.

Deswegen haben die Menschen die Pflicht, die natürlichen Werte so zu erstreben und zu fördern, daß sie dem einzigen, übernatürlichen Lebensziel zugeordnet bleiben und das Übernatürlich-Jenseitige im Menschen nicht gefährden.

Die christlichen Tugenden und Pflichten dürfen aus ihrer vorherrschenden Stellung nicht verdrängt werden. Aufbau und Tätigkeit der natürlichen Gemeinschaften sowie der Dienst in diesen Gemeinschaften müssen so erfolgen, daß den Gemeinschaften der übernatürlichen Ordnung, insbesondere der Kirche, die freie Entfaltungsmöglichkeit gewahrt wird.

Auch innerhalb der übernatürlichen Ordnung lebe der Mensch als Gemeinschaftswesen.

Das geht mit voller Deutlichkeit aus der Offenbarung hervor: z.B. das Reich Gottes; die Kirche als „Volk Gottes“; als Gemeinschaft der Erlösten, als mystischer Leib Christ; das stellvertretende Sühneleiden des Herrn für alle Menschen; das Beispiel des Herrn; die acht Seligkeiten; die Sakramente; die Gemeinschaft der Heiligen; das Gebet mit- und füreinander (Vater unser …; wo zwei oder drei in Meinem Namen versammelt sind …; das gemeinsame Gebet des Herrn mit Seinen Aposteln); das Gebot der Nächstenliebe und der anderen sozialen Tugenden (Gerechtigkeit, Güte, Milde, Sanftmut usw.)

Wie sehr der Eigenwert der Einzelpersönlichkeit im Reiche Gottes gilt, davon zeugen in ergreifender Weise die Hirtengleichnisse (der gute Hirt, das verloren gegangene Schäflein), vgl. weiter das Gleichnis von den Talenten (jeder muß sein Tun verantworten!); jeder Erlöste ein Kind Gottes und Erbe des Himmels; der Wert der Gnade.

Pius XII. lehrte:

Die lebendige Kirche im Herzen des Menschen, der lebendige Mensch im Schoß der Kirche; das ist die tiefste und wirksamste Einheit, die es gibt. In dieser Einheit erhebt die Kirche den Menschen zu seiner Wesens- und Lebensvollkommenheit und gibt der menshclichen Gesellschaft Menschen solchen Formats:

  • Menschen, festgefügt in ihrer unverletzlichen Ganzheit als Ebenbilder Gottes;
  • ihrer persönlichen Würde und gesunden Freiheit stolz bewußte Menschen;
  • zu Recht auf Ebenbürtigkeit mit ihren Mitmenschen halten;
  • in ihrem Boden und ihren Sitten verankerte Menschen. 

Mit einem Wort: Menschen, die durch dies vierfache Element gekennzeichnet sind – das gibt der menschlichen Gesellschaft ihre feste Grundlage, verschafft ihr Sicherheit, Ausgewogenheit, Gleichheit, normale Entwicklung in Raum und Zeit.

(Konsistorialansprache 1946)