War die Erde eine Scheibe? Hintergründe einer Missdeutung (2)

Quelle: FSSPX Aktuell

Imago mundi von Gossuin von Metz (1246)

Nein, die Missdeutung, von der wir hier sprechen, stammt nicht von der NASA, sondern betrifft die hartnäckige und dennoch falsche Vorstellung eines – so könnte man sagen –  „platistischen“ Mittelalters und die ideologischen Hintergründe dieses Mythos.

Man könnte all dem wenig Bedeutung beimessen. Schließlich kann ein Christ seine Seele retten, ganz gleich, welche Form er der Erde zuschreibt. Ist die Hauptsache nicht der erschreckende Rückgang der Lebenserwartung, die nur noch 85 Jahre beträgt, während sie im Mittelalter in der Hoffnung auf das ewige Leben bestand? 

Wohl wahr, aber uns interessiert hier nicht die Form der Erde oder die Wissenschaft alter Zeiten, sondern der Ursprung des zeitgenössischen Mythos und was er uns über unsere Zeit sagt. Dieser Mythos diente lange Zeit als Topos, um die vermeintliche Dummheit einer christlichen Periode, die unter dem verkürzten Begriff „Mittelalter“ zusammengefasst wurde, mit einem Schlag lächerlich zu machen. 

Dieser vermutete, vermeintliche „Obskurantismus“ wendet sich nun gegen die Verbreiter des Dummheits-Mythos, und zwar umso stärker, als der Zugang zu Wissen heute unvergleichlich besser ist als zu Zeiten, als es noch keinen Buchdruck gab. Es ist mittlerweile vergleichsweis leicht, den Mythos vom mittelalterlichen „Platismus“ zu entkräften, wobei noch im Mittelalter eine enorme Energie erforderlich war, um sich das Wissen der Alten zu erobern und sich zu bewahren. 

In einem 2021 erschienenen, äußerst erhellenden Buch mit dem Titel „La Terre Plate: Genealogie D'une Idee Fausse“ [Die flache Erde, Genealogie einer falschen Vorstellung] [1] zeichnen Violaine Giacomotto-Charra und Sylvie Nony den Ursprung dieses hartnäckigen Mythos nach. Muss man sich wundern, wenn man bei der Lektür feststellt, dass der Hauptautor des Mythos kein Geringerer als Voltaire ist? 

Lactantius und Komas 

Es gibt zwar einige Personen und Elemente, die den Mythos begründeten, insbesondere der christliche Apologet Lactantius († 325), der sich als einzige westlich bekannte Ausnahme zugunsten einer flachen Erde aussprach. Seine Meinung wurde jedoch von niemandem befolgt und er wurde nie zu den Kirchenvätern gezählt. 

Im Osten gibt es einen gewissen Cosmas Indicopleustes († um 550), der eine „platistische“ christliche Topographie verfasste. Dieser berühmte Unbekannte, dessen Name selbst nicht gesichert ist, scheint ein griechischsprachiger Kaufmann aus dem nestorianischen Schisma gewesen zu sein. Die erste lateinische Übersetzung seiner Topographie stammt aus dem Jahr 1707. 

Kaum notwendig zu erwähnen, dass er im mittelalterlichen Westen völlig unbekannt war und ist. Voltaire zitiert jedoch Lactantius und Kosmas als Vertreter der Position aller Väter: „Die Väter betrachteten die Erde wie ein großes, von Wasser umgebenes Schiff; der Bug lag im Osten und das Heck im Westen. [2]“ 

Das ist die bewusste Missachtung einer grundlegenden Kontextualisierung. Mit einer solchen methodischen Fehlannahme könnte man auch sagen, dass das dritte Jahrtausend „platistisch“ ist, wenn man nach einigen Videos im Internet urteilt. Denn das hieße, eine absurde Randthese als Norm anzusehen. Auch heute noch ist es nicht ungewöhnlich, dass Cosmas als Referenz zitiert wird, die er nie war. 

Die Frage der Antipoden 

In „Vom Gottesstaat“ [De civitate Die] sagt Augustinus von Hippo, man solle denen nicht glauben, die behaupten, es gebe Antipoden [3], also Bewohner der gegenüberliegenden Seite der Erde, beziehungsweise bewohnbare Gegenden auf der andren Seite der Erde, da diese Theorie auf unsicheren Vermutungen und nicht auf beweiskräftigen Erzählungen beruhe. Augustinus führt hier eine nicht empirisch untermauerte reine Vermutung als den Beweis ihres Gegenteils an, was man ihm kaum vorwerfen kann, und er bezieht sich vor allem nicht auf die Form der Erde. 

Daraus schloss Voltaire unstatthafter Weise jedoch, dass der große Kirchenlehrer die Kugelgestalt der Erde leugnete! Voltaire behauptet auch, dass „Alonso Tostado, Bischof von Avila, am Ende des 15. Jahrhunderts in seinem Kommentar zur Genesis erklärt, dass der christliche Glaube erschüttert wird, wenn man nur an eine runde Erde glaubt.“ 

Wenn man das Buch Tostados aufschlägt, erkennt man recht schnell Voltaires Missdeutung, denn der Bischof spricht von der „kugelförmigen Erde“ oder „unserer Hemisphäre“ [4]. Im Gegensatz dazu glaubt Tostado wie Augustinus, dass die gegenüberliegende Seite der Erde nicht von Antipoden bewohnt ist. Pierre d'Ailly bezeichnet in dem oben genannten Werk die verschiedenen Thesen über die Bewohnbarkeit der Antipoden als „Meinungen“. Wir sind hier also ganz offensichtlich sehr weit von einem Dogma entfernt. 

Diese Randfrage der Existenz von „Antipoden“ wurde durch die Entdeckungsreise von Christoph Kolumbus beantwortet. In der Folge entstand die Legende eines Kolumbus, der das „platistische“ Dogma erst empirisch auflösen musste, um es so ad absurdum zu führen. Dies wird so insbesondere in einer von Washington Irving produzierten Biografie des Seefahrers dargestellt, die sehr stark zu dem „Platismus“-Mythos beigetragen hat. 

Frédéric Weil

(Fortsetzung folgt)

 

[1] Violaine Giacomotto-Charra und Sylvie Nony, La Terre Plate: Genealogie D'une Idee Fausse, Ed. Les Belles Lettres, 2021. Wir haben uns stark auf dieses leider nur in französischer Sprache erhältliche Werk gestützt. 

[2] Dictionnaire philosophique (1764), Artikel Figure. Vgl. auch die Artikel „Ciel matériel“ und "Ciel des Anciens".

[3] De civitate Dei, L. XVI, Kap. IX. 

[4] Alphonsi Tostati Episcopi Abulensis, Opera omnia, Commentaria in Genesim, Venedig, 1728, S. 71-72.